Zehn Minuten — die immer wieder kommen

Verena Wilmes
3 min readAug 19, 2021
Photo by Armand Khoury on Unsplash

Das Datum steht fest und plötzlich ist es real.

Es gibt kein Verdrängen dieser Tatsache mehr, mit jedem Tag, der vergeht, kommt dieser Moment einen Tag näher. Der Moment, in dem ich mich selbst überwinden muss, mich meiner bisher größten Herausforderung stellen muss. Es ist ein Moment, den ich mir nicht vorstellen kann. Ich spüre meine Beine weich werden bei der bloßen Vorstellung, das Ziehen in meiner Mus­kulatur, als wollten sie mich zwingen, umzukehren. Ich sehe erwartungsvolle Gesichter, spüre ihren Druck, als würde ihr bloßer Atem mich an die Wand nageln. Mein Magen hat Kammerflimmern, mein Herz ist mutlos.

Es fühlt sich größer an als es ist, es wächst weit über meinen Kopf und wirft Schatten, sogar auf den Tag heute, viele Tage vor diesen verdammten zehn Minuten in meinem Leben. Läppische zehn Minuten, die mich herausfordern, die sich nach etwas anfühlen, was noch kein Mensch auf dieser Welt getan hat. Zehn Minuten für die kein gutes Zureden, kein Ratschlag, kein Tipp auch nur ansatzweise helfen. Und ich muss da durch.

Muss ich?

Ich könnte eine ganz andere Richtung einschlagen. Niemand kann mich zwingen, das zu tun, was mir Angst macht. Der Impuls zu fliehen, setzt sofort ein, macht mich kreativ auf der Suche nach einem Ausweichmanöver. Aber obwohl ich mich dem nicht gewachsen fühle, ohne genau zu wissen, weshalb und vor was ich mich fürchte, ahne ich, dass jenseits dieser zehn Minuten Freiheit liegt. Nicht nur wegen der Erleichterung, die ich bereits süß schmecken kann, sondern weil ich weiß, das wahre Freiheit bedeutet, Angst zu besiegen. Ein Leben, das nur mir gehört, in dem ich in jeder Sekunde im Moment sein kann, weil meine Gedanken nicht vorauseilen, sich mit etwas quälen, das vage in der Zukunft lauert und unmöglich ist, in der Gegenwart zu überwinden.

Aber wie finden wir den Mut uns diesen zehn Minuten im Leben zu stellen, die immer wieder kommen, in allen Formen und Farben, uns herausfordern und Entscheidungen von uns verlangen, denen wir uns nicht gewachsen fühlen? Möglicherweise beginnt es tatsächlich mit einer Veränderung in unseren Gedanken.

Diese zehn Minuten, diese Herausforderung vor uns, ist nichts, was in der Geschichte der Menschheit noch niemand getan hat. Es ist nur der nächste, logische Schritt. Einer, von denen wir alle schon so viele gemacht haben. Wir neigen dazu, nicht zu sehen, wie weit wir schon gekommen sind, auf unserem bisherigen Weg. Wir neigen dazu, nicht zu sehen, dass wir alles haben, was diese zehn Minuten uns abverlangen. Das wir in den Jahren, die uns zu dieser Herausforderung, dieser Ziellinie gebracht haben, bereits die Grundlage für alles gelegt haben, was wir jetzt brauchen. Wir haben zu Herausforderungen „Ja“ gesagt, zu denen wir hätten „Nein“ sagen können, wir haben lange Nächte gehabt und sind frühmorgens aufgestanden. Wir haben alles, was wir brauchen.

Bereits jetzt leben wir ein Leben, von dem wir an einem gewissen Punkt in der Vergangenheit nur träumen konnten. Und so geht es in diesen zehn Minuten nicht um die Zukunft. Es geht um das, was wir bereits sind und darum, all das zum Leben zu erwecken.

Sie sagen: Pain is temporary but quitting is forever. Und nicht nur ich, würde mich mein Leben lang an dieses Aufgeben erinnern, sondern auch die Menschen, die an mich glauben. Der Gedanke an diese zehn Minuten, bringt mein Herz noch immer aus dem Takt, lässt meinen Adrenalinpegel steigen, aber der Impuls zu fliehen, lässt sich kontrollieren. Ich bin bereit die Aufgabe anzugehen.

Es sind diese Momente, die unsere Herzfrequenz steigern und uns den Atem rauben, in denen wir das Leben am meisten spüren.

Was wären unsere Leben ohne diese zehn Minuten? Und was gibt uns das Leben alles zurück, wenn wir unser alles, unser Bestes geben?

--

--