Ein seltener Moment der Dankbarkeit

Verena Wilmes
4 min readJul 18, 2021

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Photo by Leon Seibert on Unsplash

Die Sonne neigt sich dem Horizont zu, sticht gerade noch so durch die Windschutzscheibe, während ich den Supermarkt hinter mir lasse, auf dem Weg nach Hause. Das Auto duftet nach dem Obst, dem Fleisch, was ich gerade gekauft habe, den Möglichkeiten zu kochen, der Zeit dafür. Die Musik aus dem Radio ist entspannter, die Straßen sind freier, leerer. Es ist der Moment, jeden Samstagabend, der mich daran erinnert, dass eigentlich alles gut ist. Es ist der Moment, der mich mit dem Gefühl erfüllt, für das so selten Zeit ist: Dankbarkeit.

Dieser Moment bedeutet eine Pause, von der Hektik, den Listen, den Meinungen und der Jagd nach Dingen, die eigentlich keinen Wert haben, aber geeignet sind der Welt zu zeigen, was wir leisten und Wert sind. Dieser Moment des in die Sonne blinzeln am Samstagabend ist der, in dem auf mein ölverschmiertes Gesicht eine kalte Dusche und ein kühles Bier warten. Alles was vor mir liegt, während ich nach Hause fahre, ist die Aussicht auf einen Grillabend, einen Abend, ohne den Zeitdruck ins Bett gehen zu müssen und einen Sonntag, an dem die ganze Energie eines langen Tages mir zur Verfügung steht. Für meine Gedanken und Pläne.

Es ist ein Moment, der so selten geworden ist. Früher war das anders.

Ich fahre an Menschen auf Balkonen vorbei, die Wärme und die letzten Sonnenstrahlen eines Sommertages genießen. Der Anblick erinnert mich an laue Sommerabende, an denen die Helligkeit und die angenehmen Temperaturen mich und mein Team nach dem Verlassen der Halle, einem schweißtreibenden Training, überrascht haben. Die Abende zu Fuß in der flimmernden Hitze der Großstadt mit einem Bier in der Hand, Gespräche auf Parkbänken bis spät in die Nacht, Feiern auf dem Unigelände. So viele verschiedene Gesichter, Stimmen und Themen.

Das letzte Mal, als mich die Sommersonne so geblendet hat, war ich unterwegs mit dir, du bist gefahren, aber ich war so nah in deinem Arm, dass sich unser Schweiß vermischt hat. Die Sonne hat das Braun deiner Augen heller gemacht, wenn du mich angeguckt hast. Wir haben Versprechen ausgetauscht auf dem Parkplatz vor dem Restaurant, bis es geschlossen hat, und sind zum Nachtschalter der Tankstelle gefahren, durch nächtliche Hitze auf dunklen Landstraßen. Der Nikotingeruch wird mich für immer an dich erinnern. Ich vermisse dich und die Art, wie du, wie wir die Zeit angehalten haben. Keine Zeit war so kostbar, wie die mit dir. Für keine Momente bin ich so dankbar, wie die mit dir. Die Erinnerungen sind noch so real, dass sie wehtun. Vielleicht sitzt du jetzt gerade auch in der Sonne, erleichtert das Wochenende ist und denkst flüchtig an mich. Vielleicht ist es noch nicht zu spät.

All das hat sich gelegt, wie sich die Sonne zum Horizont legt, langsam und schleichend aber dann doch schneller als gedacht. Diese Zeiten, diese Momente in der Sonne sind verschwunden. Stattdessen brennt die Sonne auf mich nieder beim ewigen Hin- und Herrennen tagein, tagaus. Beim Abarbeiten der To-Do-Liste und sie versengt dabei die Dankbarkeit, die Zeit und die Energie. Ich bin zum Träumen zu erschöpft, wenn ich einen Sonnenuntergang mal von Angesicht zu Angesicht erwische.

Ich denke, das ist nicht richtig so und ich will dahin zurück, wo nur Möglichkeiten waren.

Was muss ich tun, um die Welt wieder anders zu sehen? Langsamer, freundlicher, ent­spannter. Wie kann dieser Sommer werden, wenn ich meine Energie wieder in den Moment investiere und nicht die nächsten drei Punkte auf meiner To-Do-Liste? Vergeht die Zeit langsamer, wenn sie mir wieder so kostbar wird, wie in der Zeit mit dir? Was wäre, wenn ich dankbar bin, für alles was war und alles was ist, alles was ich hatte und habe? Vielleicht wäre es dann nicht nur ein flüchtiger Moment an einem Samstagabend, sondern eine ganze Woche, ein ganzes Leben voller Energie und Dankbarkeit. Es ist die Veränderung, die ich mir wünsche. Wir vergessen so schnell, dass die Zeiten, die wir gerade erleben, irgendwann einmal die gute, alte Zeit ist, in die wir uns zurückwünschen.

Es ist der Gedanke, der den Moment perfekt macht, bis ich zuhause bin und er unweiger­lich untergeht. In dem was nach dem Samstagabend in purer Entspannung folgt. Ein Sonntag, der von dem Gedanken an Montag getrübt wird. Die Dankbarkeit wird geschluckt von dem Druck, die Energie gefressen von Stress und meine Zeit verschwendet. Bis wieder Samstag ist und mich die untergehende Sonne daran erinnert, was ich alles unter ihr schon erlebt habe und noch erleben könnte. Bis sie mich daran erinnert, dass ich dankbar sein und Dinge ändern könnte.

Wieso nur, tue ich es eigentlich nicht?

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